Zwei Kennedys an einem Tag

Kennedy spricht

26. Juni 1963. Nachmittag. Für die Berliner ist John F. Kennedy eben zur Legende geworden. Der Präsident der amerikanischen Besatzungsmacht, die in den letzten achtzehn Jahren vom Feind zum Freund zumindest eines Teils der Deutschen geworden war, begeisterte die Massen der geteilten Stadt mit seinem »Ich bin ein Berliner“. So weit, so gut.


Der Anti-Kommunist

Der Satz war jedoch nur ein kleiner Teil der Rede, die Kennedy vor dem Westberliner Rathaus zum Besten gab. Weit weniger freundlich war ihr Rest.

 

»Lasst Sie nach Berlin kommen!« – oder wie Kennedy es sich lautmalerisch auf seine berühmte Karteikarte notiert hatte: »Lust z nach Bearlen comen« – dieser Satz dominierte die Ansprache vor dem gebannten Publikum, das sich auf dem Rudolph-Wilde-Platz vor dem Rathaus Schöneberg eingefunden hatte. Ganze neun Mal bekommen die mehr als zweihunderttausend erwartungsfrohen Berliner Ohrenpaare diesen Satz entgegengeschmettert. Dabei sind sie gar nicht gemeint. Sie sind ja in Berlin. Sie kennen ihre Lage. Sie haben miterlebt, wie bereits 39 ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger an der Berliner Mauer den Tod gefunden hatten. Dass Kennedy die geteilte Stadt überhaupt besucht, hängt auch mit der Wut der Westberliner zusammen. Diese wollten einfach nicht verstehen, wieso die Amerikaner nichts gegen die Mauer unternehmen.

 

Ein knappes Jahr zuvor hatte der Zorn der West-Berliner auf die Mauer, auf deren Erbauer, aber auch auf die Untätigkeit der Amerikaner einen Höhepunkt erreicht, als am 17. August 1962 Peter Fechter starb. Der Achtzehnjährige hatte mit einem Freund versucht, in den Westen zu fliehen. Beim Versuch, über die Mauer zu klettern, wurden die Beiden von DDR-Grenzern beschossen. Fechter fiel getroffen hinab, lebte aber noch. Seine immer leiser werdenden Schreie wurden auf beiden Seiten des Todesstreifens gehört. Doch aus Angst, selbst beschossen zu werden und damit einen internationalen Zwischenfall zu provozieren, traute sich keine Seite, den jungen Mann zu retten. Nach einer Stunde war Fechter verblutet. Das Unverständnis der Westberliner für das Verhalten der amerikanischen Grenzposten am Checkpoint Charlie mündete schnell in Zorn. Zorn, der sich in den Wochen danach auch an den Amerikanern entlud.

 

Als Kennedy nun vor den Menschen dieser Stadt steht, versichert er ihnen, dass ihre Lage nicht unbemerkt geblieben ist und dass er einer der ihren sei und – als »Berliner« – ihre Meinung und ihren Abscheu für die Mauer teile. Für all diejenigen jedoch, die behaupteten, man könne mit den Kommunisten zusammenarbeiten, hatte er nur sein »Lasst sie nach Berlin kommen« übrig. Hier in Berlin, so Kennedy weiter, konnte sich jeder davon überzeugen, wie das kommunistische System versagt habe. Ein Blick auf Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen genügten, um sich dies klarzumachen.

 

Oder doch nicht?

So also Kennedys Meinung vor dem Rathaus Schöneberg. Keine drei Stunden später rückte er schon wieder davon ab. Seine Rede an der Freien Universität Berlin ist frei von jeder Polemik gegen den ideologischen Gegner. Er selbst ist es nun, der anmahnt, man müsse mit der Sowjetunion in Zukunft zusammenarbeiten. Ein Hauch von Entspannungspolitik erfüllt den Vorplatz des Henry-Ford-Baus, als John F. Kennedy die neuen Leitlinien seiner global ausgerichteten Politik erläutert. Deren neue Ausrichtung zielte auf Ausgleich und Kooperation mit dem kommunistischen Lager, wenngleich er auch weiterhin überzeugt war, dass das westliche kapitalistische System genügend Anziehungskraft besäße, um am Ende zu triumphieren.

 

Die Berliner erlebten also an diesem einen Tag gleich zwei verschiedene Kennedys. Einen, der von Emotionen übermannt die Mauer und ihre Erbauer verdammte und einen, der global dachte und der, wenn schon kein freundliches, so doch ein friedliches Miteinander der beiden Weltmächte beschwor.

 

CJ