Joseph P. Kennedy sagte einmal, dass das Streben nach politischen Ämtern in seiner Familie seinen Ursprung am Esstisch der Kennedys hatte. Während an den Nachmittagen oft sportliche Wettkämpfe im Garten der Kennedy-Residenz abgehalten wurden, gab es entweder zum Mittag- oder Abendessen Diskussionen über die Geschehnisse in der Welt.
Zunächst speiste die Familie gemeinsam, um allerdings den altersgemäßen Ansprüchen der verschiedenen Kinder gerecht zu werden, entschied Rose Kennedy, die Mutter des späteren Präsidenten John F. Kennedy, ihn und seine acht Geschwister in zwei Gruppen aufzuteilen. Die Jüngeren – Jean, Pat, Bobby und Teddy – aßen an einem kleineren Tisch und zeitiger als der Rest der Familie. Aufgrund ihrer damals als Behinderung angesehenen geistigen Schwäche, aß die älteste Tochter Rosemary gemeinsam mit den vier kleineren Geschwistern. Um die intellektuelle Weiterentwicklung dieser Gruppe zu fördern, speiste Rose mit ihnen. Die zweite Gruppe, bestehend aus dem »Goldenen Trio« Joe Jr., John und Kathleen, aßen mit ihrem Vater. Manchmal wurde diese Gruppe durch Eunice ergänzt, welche altersmäßig in beide Gruppen passte.
Als oberstes Gebot galt Pünktlichkeit – und wer dagegen verstieß, hatte mit einer Bestrafung zu rechnen. Dies bedeutete, dass der Zuspätkommer – oft war es John, von seiner Familie jedoch Jack genannt – einen Gang auslassen musste oder eine Zurechtweisung des Vaters erhielt. Zubereitet wurden die Speisen vom hauseigenen Koch und seiner Küchenhilfe; das Servieren hingegen übernahm ein Butler mit Unterstützung einer Kellnerin.
Der Ablauf des Essens war abhängig davon, ob das Familienoberhaupt anwesend war oder nicht. Sobald ein Elternteil das Speisezimmer betrat, sollten die Kinder von ihren Stühlen aufstehen und nahmen erst nach Erlaubnis wieder Platz. Im Vorfeld jeder Mahlzeit wurden verschiedene Themen, über welche sich die Kinder informieren sollten, an ein schwarzes Brett geheftet, damit diese beim Essen diskutiert werden konnten.
Wenn Joe Sr. zuhause war, waren die Themen meist politischer Natur, wie beispielsweise das Handeln seines Freundes und ehemaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt während des Ersten Weltkriegs. Er leitete die zu diskutierenden Themen stets ein, bevor die Kinder die Möglichkeit hatten, ihre recherchierten Ergebnisse zur Thematik darzulegen und ihre eigene Meinung dazu zu äußern.
Während der Abwesenheit des Vaters, oft aufgrund beruflicher Verpflichtungen, übernahm seine Frau die Organisation des Dinners. Sie gestaltete die Mahlzeiten oft mit Themen aus den Bereichen der Literatur, Geografie oder Religion. Dafür beauftragte sie ihre Kinder, von ihr ausgesuchte Bücher zur Vorbereitung zu lesen. Während für den Vater Joseph die Beteiligung seiner Söhne an den Gesprächen im Vordergrund stand, erwartete Rose von ihren Töchtern ebenfalls eine aktive Teilnahme am Geschehen.
Neben der Diskussion über das Weltgeschehen gehörten auch Quizrunden zum Spektrum des gemeinsamen Essens. Hierzu wurde jeweils eines der Kinder mit einem bestimmten Thema beauftragt, worüber es alles Erdenkliche herausfinden und die Ergebnisse dann am Tisch präsentieren sollte. Die Geschwister mussten sich ebenfalls mit der Thematik vertraut machen, um den Bruder oder die Schwester mit Fragen dazu zu testen.
»Wir wollen keine Verlierer unter uns haben. In dieser Familie wollen wir nur Gewinner.« – Rose Kennedy
Den besonderen Reiz dieser Diskussionen machte die Teilnahme verschiedener bekannter Gäste aus. Unter den Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und Schauspielern, welche gelegentlich zum Abendessen bei den Kennedys eingeladen wurden, zählten beispielsweise Henry R. Luce – der Herausgeber der Zeitschriften TIME, Fortune sowie LIFE – und seine Frau Clare Booth Luce, eine namhafte Journalistin und Bühnenautorin. Ab und zu lud auch einer der Kennedy-Sprösslinge einen Schulfreund zum Essen ein. Im Gegensatz zu den prominenten Gästen, wurde die Anwesenheit von Freunden der Kinder vom Familienoberhaupt größtenteils ignoriert.
Bei den Diskussionen während des gemeinsamen Speisens ging es aber nicht nur um das Abfragen von Wissen, Joseph Kennedy ermutigte seinen Nachwuchs, auch seine eigenen Argumente in Frage zu stellen und Aussagen anderer kritisch zu betrachten. Er unterstützte so die Entwicklung eigener Argumentationsstränge seiner Kinder, da er es für wichtig empfand, dass sie sich zu selbstbewussten und eigenständigen Individuen entwickelten.
Trotz des Leistungsdrucks und des Konkurrenzkampfs unter den Geschwistern, beschrieb Ted dieses außergewöhnliche Ereignis als ein »wundervolles Geschenk« seiner Eltern, welches den neun Kindern die Möglichkeit gab, ihre Augen für die Geschehnisse der Welt zu öffnen. Durch diesen besonderen Ablauf des gemeinsamen Speisens der Kennedys, erzogen Joseph und Rose ihre Kinder zu zielstrebigen und ehrgeizigen Erwachsenen, welche durch ihr enormes Wissen und ihre rhetorischen Fähigkeiten Plätze unter den erfolgreichsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts innehalten.
Vanessa Grothe